Qigong

Die Nabe des Rades

In einem kurzen Artikel über das Wesen des chinesischen Denkens beschreibt der Philosoph Arnold Keyserling dieses als auf einem so tiefen Naturverstehen beruhend, wie es in anderen Weltgegenden nur von Dichtern in einem außergewöhnlicher Zustand innerer Kommunion erreicht worden wäre. Außergewöhnlich in anderen Weltgegenden, stellte es für die gebildeten Chinesen Norm und Basis ihres Bewusstsein dar. Durch Systeme von Entsprechungen und Korrespondenzen verknüpfte dieses Naturverstehen Prozesse der Natur, die Struktur des menschlichen Körpers, Fragen des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens bis hin zu solchen der Kreativität und schöpferischen Inspiration zu einem organischen Ganzen. Der Zusammenhang des Ganzen wurde jedoch nicht direkt im System der Entsprechungen gesucht, sondern in dem diesem zugrundeliegenden undifferenzierten Kontinuum (Hundun 混沌 – Chaos), dem Natur, Leben, Bewusstsein und Kreativität gemeinsam entspringen. Sein Leben hierauf, auf eben dieses undifferenzierte Kontinuum, zu gründen, würde dem Menschen erlauben, den Zusammenhang mit der Natur nicht zu verlieren, in sich und um sich Ordnung und Harmonie entstehen zu lassen und die schöpferischen Möglichkeiten der Natur durch sich zum Ausdruck und zur Vollendung zu bringen.

Die in Arnold Keyserlings Artikel angesprochenen Gedanken sind auch für das Qigong wesentlich, deuten sie doch an, was dessen geistige Bedeutung für uns ausmachen könnte, die wir in einem anderen kulturellen Zusammenhang zuhause sind.

Obwohl Qigong in seiner heutigen Gestalt erst seit wenigen Jahrzehnten existiert, steht es doch ganz in der Tradition des Daoismus. Geht man im Daoismus davon aus, dass das Leben im unsichtbaren, unhörbaren und ungreifbaren Dao 道 wurzelt, in den geheimnisvollen Tiefenschichten der Wirklichkeit, aus denen es immer wieder seine Erneuerung finden kann und muss, so findet man denselben Gedanken und dieselbe Struktur auch im Qigong, das ebenfalls durch seine Methoden das individuelle Leben an das „große Leben“ wiederanzuschließen sucht, an den vagen, undefinierten Urgrund, der erst in tiefer innerer Stille und Leere zugänglich werden kann. Erst wenn der Zugang zum schöpferischen Urgrund und Urpotential geschaffen ist, kann sich das Leben, sowohl physisch als auch geistig, regenerieren und zu der ihm gemäßen Harmonie finden, die der Harmonie der natürlichen Welt entspricht.

Harmonie und Ordnung werden jedoch nicht gemacht. Gerade für uns im Westen ist dies ein wichtiger Gedanke. Die Natur trägt nicht den christlichen Makel der Unvollkommenheit in sich, keine Urschuld muss gesühnt werden, es braucht weder Steuerung noch Verbesserung oder Kontrolle des Lebens, damit Ordnung und Harmonie entstehen können. Ordnung und Harmonie sind vielmehr Eigenschaften des Dao 道, des „Weges“, d.h. in der Natur entstehen sie von selbst. Auch der Mensch wäre demgemäß grundsätzlich Teil dieser Ordnung, obwohl er im Alltag aus unterschiedlichsten Gründen immer wieder aus dieser herausfällt, mit all den negativen Folgen für das körperliche wie auch das geistige Leben.

Um die Harmonie wiederzuerlangen, ist es die erste Aufgabe des Menschen, zu lassen. Ordnung und Harmonie sind Grundeigenschaften der Natur, Mensch und Natur sind gemeinsamen Ursprungs, darum können Ordnung und Harmonie aus dem Lassen entstehen, aus einer Haltung des Nicht-Eingreifens und des nicht artifiziellen Handelns, Wuwei 無為 genannt. Und darum geht es in den Grundprinzipien des Qigong auch nicht um Techniken der Qi-Steuerung und Qi-Kontrolle, sondern es wird von Entspannung, Ruhe und Natürlichkeit gesprochen, also davon, wie wichtig es ist, physisch wie auch psychisch loszulassen, ruhig zu werden, die Ruhe allmählich vertiefen zu lernen, jede Entwicklung natürlich geschehen zu lassen und sich nicht um Ergebnisse zu bemühen. Darum ist es auch inkorrekt, wenn Qigong als „Energiearbeit“ übersetzt und verstanden wird; es geht weder um ein „Arbeiten“ mit dem Qi noch könnte überhaupt mit diesem „gearbeitet“ werden. Qigong ist vielmehr ein Entspannen und Lassen, das dem Leben erlaubt, seine Ordnung, die der Ordnung der Natur entspricht, von selbst wiederzufinden.

Zu Lassen bedeutet, zur rechten, lebendigen Mitte zu finden, indem das Leben des Menschen im inneren leeren Raum (dem oben erwähnten undifferenzierten Kontinuum, dem uranfänglichen Chaos) verankert wird. Die lebendige Mitte, im Bild der Nabe eines Rades verstanden, entspricht dem unausgedehnten Punkt, der den Zusammenhalt und die richtige Funktion des Ganzen gewährleistet; aus dieser Mitte und durch die Leere des inneren Raums beginnt das Leben mit der harmonisierenden Bewegung der Natur in Resonanz zu treten, sich spontan umzustrukturieren und zu erneuern. Die Energien des Lebens hingegen direkt – willentlich – ordnen zu wollen, hieße mißzuverstehen, wie Harmonie und Ordnung entstehen, oberflächlich aus einem falschen inneren Zentrum heraus zu agieren und neue Einseitigkeiten zu erzeugen.

Darum geht es ebenfalls am Wesentlichen vorbei, Qigong als Methode zur Lösen von Energieblockaden zu beschreiben. Natürlich geht es um den freien Fluß des Qi, doch wird dieser nicht mechanisch erzeugt, er ist nicht Ursache, sondern Folge der harmonischen Einstimmung des Menschen auf Wirklichkeit und Welt, die durch dessen Orientierung auf ein leeres Zentrum hin erfolgt. Es ist, um noch einmal Arnold Keyserling zu zitieren, das dem Bewusstsein zugrundliegende Gewahrsein, das aus der Leere, dem Nicht-Definierten und Vagen, ordnend, harmonisierend und heilend wirkt und den Menschen an den Ursprung rückbindet.

Mir ist es in meinen Kursen ein Anliegen, Qigong möglichst klar und fundiert zu vermitteln. Darüber hinaus möchte ich aber auch zeigen, dass die durch Qigong und sein geistiges Umfeld berührten Themen weit über das Üben hinausgehen und auch für uns im Westen Relevanz besitzen können. Es sind vor allem die daoistischen Vorstellungen über den Ursprung aller Kreativität im Undifferenzierten und Vagen und der Verankerung des Lebens darin, die meiner Meinung nach so wichtig sind. Sie tragen das Potential zur Freiheit in sich, der Freiheit von einschränkenden Denkgewohnheiten, Ideologien und Ichbildern, indem die schöpferischen Aspekte des Lebens betont werden, und der sich im Leben entfaltende Sinn, jenseits von vorformulierten Wegen, Religionen oder Philosophien, als individuelle Verkörperung des schöpferischen Möglichkeiten des Ganzen verstanden wird. Im Chinesischen wird dieser verkörperte Sinn De 德 – „Tugend“ – genannt, persönlicher Ausdruck des Dao 道, des „Großen Weges“ aller Dinge.

© Árpád Romándy