Qigong

Qigong, Gesundheit und die Rückbindung an den Ursprung

Qiqong steht ganz in der Tradition des daoistischen Denkens, indem es die Welt als lebendiges Kontinuum der Urenergie Qi versteht. Der Ursprung des Qi ist im Unsagbaren, im Laozi schlicht als Nicht-sein (wu) bezeichnet; auch Begriffe wie hundun (Chaos), yinyun (das Neblige und Verschwimmende) oder xiantian (das Vor-Himmlische) verweisen auf diesen unsagbaren Ursprung. Aus dem einen ursprünglichen Qi differenziert sich die Polarität von Yin und Yang, aus deren Interaktion wiederum entstehen die Welt bzw. „die zehntausend Dinge“. „Einmal Yin, einmal Yang, das ist der Weg“, lautet die alte Formel aus dem Xici-Kommentar zum Buch der Wandlungen. Die Verdichtung des Qi (Yin) führt zu den Formen und Dingen, deren Auflösung (Yang) läßt sie wieder zum Ursprung zurückkehren. Das Huangdi Neijing, der Klassiker des Gelben Kaisers, formuliert dies so: „Yang ist die Transformation zu Qi, Yin die Entstehung von Form.“

Die materielle Wirklichkeit ist nur scheinbar beständig und fest; tatsächlich ist sie eine Manifestation des ursprünglichen Qi. In diesem Sinn behauptete und betonte der Daoismus zu allen Zeiten, dass die Menschen nicht der wahren Natur der Wirklichkeit gewahr seien, weder der wahren Wirklichkeit des Universums noch der Wirklichkeit der eigenen Natur. Unter der scheinbar soliden Oberfläche besteht das Universum aus einer komplexen Vielfalt subtil miteinander in Beziehung stehender Energien, in ständiger Bewegung und Transformation begriffen.

Was für das Universum im Großen gilt, gilt auch für den Menschen im Kleinen, die Natur des Menschen ist identisch mit der Natur der gesamten Wirklichkeit. Der Mensch kann darum durch bestimmte Methoden diese subtilere Ebene des Qi wahrzunehmen lernen und sie für die Transformation nutzen, die nötig ist, um das individuelle Leben wieder in das große Lebensfeld des Universums einzubetten.

Darauf zielt alle daoistische Praxis ab: zurückzukehren zu Ursprung, Wirklichkeit und Leben. Der Ausdruck Rückkehr bezieht sich hierbei auf die Positionierung im kreativen Prozess. Die Welt entfaltet sich aus dem ursprünglichen Nichts (dem Noch-Nicht, dem Vorhimmlischen) zum Etwas (dem Nach-Himmlischen). Durch die Rückkehr begibt man sich an den Beginn der kreativen Bewegung, dorthin, wo im Prozess des Ganzen unaufhörlich keimhaft das Leben sich zu manifestieren beginnt. Damit vermag man der Determinierung entgehen, die für das entfaltete Leben kennzeichnend ist. Hat sich das Leben voll entfaltet, läuft es Gefahr, starr und unflexibel zu werden; die Rückkehr an den Ursprung hingegen erlaubt dem Leben, wieder weich zu werden, durchlässig und offen, sodass es sich zu regenerieren und erneuern vermag.

Qiqong ist in diesem Sinn eine daoistische Methode. Es teilt die Weltsicht des Daoismus, der alles Leben als Ausdruck subtiler Bewegung und Transformation und den Menschen als integralen Teil und wesenhafte Reflexion des gesamten Universums versteht. Gesundheit wird, ganz im daoistischen Sinn, als Ausdruck der Verbindung des individuellen Lebens zur numinosen Quelle allen Lebens gesehen. Alle Verfahren des Qiqong versuchen, diese Verbindung wieder herzustellen.

Hier kommen zwei entscheidende Begriffe ins Spiel, Ordnung und Regulation. Gesundheit bedeutet, dass Qi-Prozesse geordnet ablaufen. Sobald die natürliche Ordnung gestört wird, wird das Regenerations- und Regulationsvermögen des ganzen Organismus beeinträchtigt, die Verbindung zum ursprünglichen Leben geht verloren. Heilen heißt, zu regulieren und solcherart innerhalb der Vielfalt der Qi-Prozesse Ordnung zu schaffen. Qiqong-Übungen sind also unter anderem als Regulationsimpulse zu verstehen, die dem Verlust an Ordnung entgegenwirken und im Weiteren die geordneten Qi-Prozesse stabilisieren, wodurch allmählich die Fähigkeit des Organismus wiederhergestellt wird, gesund und im Gleichgewicht zu bleiben.

Gesundheit meint demgemäß nicht das Erreichen eines statischen Idealzustands, sondern verweist auf das geordnete Verhalten des Qi, das wiederum Grundbedingung ist für die Rückbindung des Lebens an den Ursprung. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein dynamischer Entwicklungsprozess, dessen Regulierung dem spezifischen Dao eines Menschen sich stabil zu entfalten und zu aktualisieren gestattet.

Das Leben zurückzuführen in seinen Ursprung, heißt auch, Veränderungen in ihren Anfängen wahrnehmen zu können und langsam zu lernen, wie Gewohnheiten und im allgemeinen die Umstände des Lebens Auswirkungen haben auf den Körper, auf die Gesundheit, das Wohlbefinden und im weitesten die gesamte Sphäre der Existenz. Das Leben kann entweder korrespondieren mit den rhythmischen, ausgewogenen und geordneten Bewegungsmustern der Natur (dem Weg, dem Dao) oder es kann diesen entgegenwirken in einer Art und Weise, die arhythmisch ist, unnatürlich und ungeordnet. Im einen Fall folgt das Leben und hat Teil an einer Bewegung, die schöpferisch ist und sich fortwährend entwickelt, im anderen Fall werden die Prinzipien von Entwicklung und Kreativität verletzt, was im Leben zu einem Mangel an Möglichkeiten, Stagnation und schließlich Krankheit führen kann.

Um das Potential des Qiqong entfalten zu können, schlechter Gesundheit vorzubeugen, das Gleichgewicht wiederherzustellen oder Krankheit zu eliminieren, ist es also notwendig, den Prozess der Gesundheit zu fördern und zu stabilisieren, indem die Bewegung des Lebens abgestimmt wird auf die größeren Prozesse der Natur. Genau dies erfolgt durch die Praxis des Qigong. Durch die allmähliche Entwicklung eines geordneteren und ausgeglicheneren Qi entstehen klarere Wahrnehmung, klareres Denken und generell ein besserer Umgang mit einem selbst. Die klassischen Verfahren des Qiqong – langsame Bewegung, ruhige Atmung, Versenkung in einen Zustand der Stille – geben dem Leben Zeit und Raum zur Entfaltung und ermöglichen natürliche, ausgewogene Transformation im Einklang mit der großen Bewegung des Universums.

Die Praxis des Qiqong ist dabei äußerst einfach: man beginnt immer wieder von neuem, führt langsame Bewegungen aus, atmet, folgt dem Atem, um ruhig zu werden..  Allmählich bekommt so das Leben wieder mehr Raum zu seiner natürlichen Entfaltung.

Mit anderen Worten, die Verbindung zum Vorhimmlischen, durch die die potentielle Fülle des Qi sich aktualisieren kann, geschieht nicht durch bewusste Kontrolle und Beeinflussung des Qi, sondern durch Lassen und Reduktion – Einfachheit und Ruhe sind die Schlüsselbegriffe. Übungen im Qiqong sind kein Training und auch kein Manipulieren des Qi, sondern Realisierung und Entfaltung von als Keim angelegten Möglichkeiten. Gesundheit ist ein Prozess der Entwicklung, dessen Regulierung Offenheit und Kommunikation im Sinne eines freien Informations- und Energieflusses erzeugt und ein immer mehr an Möglichkeiten zuläßt.

Das Leben muss nicht gelenkt, geleitet und kontrolliert werden, es lebt und organisiert sich aus sich selbst. Der Wille zu Beeinflussung und Kontrolle entstammt oberflächlichen Schichten des Bewusstseins, die nicht in Berührung sind mit der grundlegenden Ganzheit des Lebens. Darum werden im Qiqong Entspannung und Stille als so wichtig erachtet. Die Stille liegt der Selbstregulationsfähigkeit des Lebens zugrunde, sie stellt den Zugang dar zum natürlichen, dem Leben innewohnenden Potential von Gesundheit und Gleichgewicht. Die oben erwähnten Regulationsimpulse helfen dem Leben, die Fähigkeit zur Selbstregulation wiederzufinden, die aus der Verbindung mit der Quelle des großen Lebens des Universums entsteht. Wird das Leben wieder zurückgeführt an die Quelle, kann es sich entfalten, Gesundheit und Gleichgewicht als Ausdruck dieser Beziehung stellen sich von selbst ein.

Mein Anliegen im Qiqong ist diese Einfachheit, deren Wichtigkeit im Prinzip alle meine Lehrer betont haben, Prof. Cong, Prof. Lin und die anderen Lehrer, die ich an seinem Institut in Beijing kennengelernt habe. Nicht das Üben vieler Übungen ist im Qiqong wesentlich, sondern die allmähliche Verwirklichung zweier einfacher Prinzipien, die Vereinigung von Atem und Geist (xinxi xiangyi) und das Eintreten in den Zustand der Stille (rujing). Diese beiden Prinzipien, in ihrer Einfachheit und Schlichtheit, sind der Schlüssel zur Meisterung der Kunst des Nährens des Lebens (yangsheng, wie Qiqong auch genannt wird), und tragen sein gesamtes Potential in sich.

© Árpád Romándy