Qigong

Gedanken zu Qigong und dem Daodejing

Im Mittelpunkt der daoistischen Kosmologie stehen die Ideen der Leere und des Atems/des Qi. Das Dao wurzelt in der Leere, es ist das belebende Prinzip der zehntausend Dinge. Aus der Leere entspringt das yuanqi (das uranfängliche Qi, der ursprüngliche Atem). Die Leere ist der Urzustand des Universums, sie ist Ursprung und Ort der Rückkehr gleichzeitig. Nur durch die Leere sind Leben und Transformation der Welt möglich, sie ist Grundbedingung des Funktionierens der Welt.

Im 42. Kapitel des Laozi ist der Prozeß des Entstehens und Werdens beschrieben.

Das Dao erzeugt die Eins.
Die Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt die zehntausend Dinge.
Alle Dinge tragen das Yin auf dem Rücken und umarmen das Yang,
der Atem der Leere wirkt die Harmonie.

In diesem Prozeß ist es die Leere, die zusammen mit Yin und Yang Leben werden läßt. Horizontal lebt der Mensch in der fluktuierenden Dynamik von Yin und Yang, die ineinander wurzeln, sich wechselseitig hervorbringen und beschränken, in fortwährendem Zu- und Abnehmen; vertikal ist er mit der Leere als zeugender Kraft, als ursprüngliches Qi verbunden. Qigong und daoistische Meditation führen einen zurück, in Gegenrichtung an den Beginn dieses Entfaltungsprozesses, um dort von diesem Quellgrund genährt zu werden.

Laozi sagt in Kapitel 15, daß die Fülle unversiegbar ist, da sie wie leer ist:

Wer an diesem Weg festhält,
wünscht nicht, voll zu sein.
Weil er nicht voll ist,
kann er verschlissen und doch immer neu sein.

Und in Kapitel 4 lesen wir:

Der Weg ist leer, doch unerschöpflich ist sein Gebrauch.
Wie ein Abgrund, er scheint der Ahne der zehntausend Dinge zu sein.

Das Bild, das Laozi für die Leere gebraucht, ist das Tal: Leer, trägt, umfasst und hält es alle Dinge. Darum wird in den alten Kommentaren zum Daodejing das Tal auch mit dem unerschöpflichen Atem gleichgesetzt.

In Kapitel 6 heißt es:

Der Geist des Tales stirbt nicht, er ist das dunkle Tierweibchen.
Das Tor des dunklen Tierweibchens ist die Wurzel von Himmel und Erde.
Fein wie ein Seidenfaden, wie anwesend, wirkt es ohne Mühe.

Da das Universum aus dem Qi, dem Atem entspringt, ist es möglich, durch den Atem und das Qi das Leben zu nähren. Darauf weisen seit dem Kommentar des Heshanggong, des Alten vom Fluß, alle daoistischen Autoren hin: der Seidenfaden ist der Atem, der mühelos und fein fliessend, den Körper von Grund auf mit der Kraft des Ursprungs belebt. Auch im heutigen Qigong wird mit dem Verweis auf den feinen, mühelos sich entwickelnden Seidenfaden die Atmung in der Versenkung der daoistischen Meditation beschrieben.

Das Chaotische (hundun) und das Dunstige, Verschwimmende (yinyun) sind Stadien im der Leere entspringenden kreativen Prozess. Durch das Abstimmen der Aufmerksamkeit, durch die Versenkung in einen dunklen, tiefen, unscharfen, vagen, chaotischen, verschwommenen Zustand wird das yuanqi (das ursprüngliche Qi) des Universums zugänglich und nährt und erneuert das Leben. Daoistische Meditation ist im Prinzip äußerst einfach: einfach nur Stille und Leere.

Darum lesen wir in Laozi 16:

Erreiche das Äußerste an Leere, bewahre die Stille in der Mitte.
Miteinander entstehen die zehntausend Dinge; ich sehe ihre Rückkehr.
All die unzähligen Dinge, ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.
Dies heißt Stille. Stille bedeutet Rückkehr zum Schicksal.
Rückkehr zum Schicksal heißt Dauer. Um die Dauer zu wissen, heißt weise zu sein.
Nicht um die Dauer zu wissen, bedeutet rücksichtslos zu sein und wild.
Wenn man rücksichtslos ist und wild, führt das Handeln ins Unglück.
Um die Dauer zu wissen, heißt allumfassend zu sein.
Allumfassend zu sein, heißt unvoreingenommen zu sein.
Unvoreingenommen zu sein, heißt königlich zu sein.
Königlich zu sein, ist wie der Himmel zu sein.
Wie der Himmel zu sein, heißt eins zu sein mit dem Dao.
Eins zu sein mit dem Dao, bedeutet ungefährdet zu bleiben bis ans Ende der Tage.

Im Qigong werden Bewegungen in Gesten verwandelt, die nach langen Jahren der Übung die Kreativität des Ursprungs in sich tragen. Der Mensch nimmt seine Rolle als dritter Genius in der Triade von Himmel, Erde und Mensch wahr und läßt das Leben in der Bewegung zum Vorschein kommen und in der Stille durchscheinend werden – er verbindet sich mit der Essenz des Universums. Identische Gedanken prägen die gesamte chinesische Kunst, in der Künstler in der Leere den Quell der Formen und Bilder findet, die dann – im Rhythmus der Leere – sich aktualisieren, Gestalt annehmen und sich wandeln. So finden wir z. B. beim Maler Shi Tao folgende Sätze: „Inmitten des Meeres von Tusche lege deinen Geist entschieden fest; an der Spitze des Pinsels lass das Leben sich behaupten und zum Vorschein kommen; auf der Oberfläche des Bildes bewirke Metamorphosen, auf dass sich im Herzen des Chaos Licht einniste und von dort hervorquelle. … Ausgehend vom Einen, teilt sich das Viele. Ausgehend vom Vielen wird das Eine erobert. Die Metamorphose des Einen erzeugt das Dunstige (yin) und das Verschwimmende (yun) – und damit finden sich alle Möglichkeiten der Welt verwirklicht.

Die Leere ist nicht getrennt von der Welt. Denken wir an chinesische Landschaftsbilder, in denen die leeren Stellen des Bildes die Ausbreitung des ursprünglichen Atems spürbar machen, durch den die Dinge in lebendiger Verbindung stehen und in fortwährender Wandlung einander hervorbringen, so wie Wolken und Nebel aus den Bergen geboren werden und diese ihrerseits nähren. Auch das Qi in der Meditation wird Wolken, Dunst und Regen verglichen, die in der Landschaft des Inneren steigen und fallen und das Leben befruchten und nähren. Darum heißt es in einer Anweisung zur Meditation: „Sitzend und zu den südlichen Bergen schauend, beobachte ich das Ziehen der Wolken.“

© Árpád Romándy