Von allen Kulturen der Welt ist dem Europäer die chinesische am fremdesten. Bei anderen kann er doch noch gewisse Gemeinsamkeiten entdecken. So hat er mit dem Inder die Vorliebe für Erklärung und Logik gemein, mit den Persern die Unterscheidung von Gut und Böse als Prinzipien, mit den Juden und dem Islam den Glauben an eine persönlich-göttliche Offenbarung, mit Amerika die Bewertung der persönlichen Freiheit und des geschichtlichen Lebens, und mit Russland den messianischen Chiliasmus, den Glauben an ein kommendes Reich der Gerechtigkeit. Doch im traditionellen China gab es alle diese Kategorien nicht. Das Denken erfolgte auf einer uns ungewohnten Ebene der Intuition, der Bildsymbole und Analogien. Die Stelle des europäischen persönlichen Gottes nahm der Himmel ein, der sich den Kundigen als die Vielfalt der schöpferischen Keime und Richtungen offenbarte.
Und im Unterschied zur europäischen Trennung von, Raum und Zeit als logischen Kategorien und physikalischen Prinzipien ging der Chinese vom Raumzeit-Kontinuum aus, das er in verschiedene Geschehenstypen zerlegte, die im Rahmen des klassischen Buches der Wandlungen als die Grundlage von Natur und Kultur verstanden wurden.
Um die Jahrhundertwende nun dachten manche europäische Gelehrte, dass sie das Rätsel Chinas endgültig zu lösen vermöchten: sie fanden den Schlüssel in der Lehre des Positivismus von den verschiedenen Geschichtsstufen. Von Ernst Cassirer auf die chinesische Denkweise übertragen, hieß es fortan, dass sich diese im mythischen und prälogischen Bereich vollziehe, aus dessen gleichsam kindlichem Stadium sie dann auch dereinst zum europäischen wissenschaftlichen Weltbild vordringen würde. Somit schien das chinesische Wesen eingeordnet; und selbst der Versuch des letzten wahren Kenners der chinesischen Kultur, Richard Wilhelm, im Chinainstitut zu Frankfurt eine Stätte zum Studium chinesischen Geistes zu errichten, wurde binnen kurzem zerstört: nach Wilhelms Tod degenerierte dieses zu einem der vielen philologisch-wissenschaftlichen Institute und veröffentlichte fortan nur noch vergleichende Sprachstudien.
Die Revolution Sun Yat-sens und später des Kommunismus unter Mao Tse-tung schien der abendländischen wissenschaftlichen Interpretation Recht zu geben: der moderne Chinese behauptet, sich radikal von der Tradition abzukehren. Doch diese Abkehr bedeutet keine Umkehr zur europäischen Weltauffassung: in Wirklichkeit ging es Mao Tse Tung, einem tiefen Kenner der chinesischen Klassik, darum, mit Hilfe der Kategorien des dialektischen Materialismus die Wurzeln der chinesischen Yin-Yang Philosophie zu erneuern, um damit den Menschen als Techniker und arbeitendes Wesen erneut mit dem Kosmos in Beziehung zu setzen. Um diese Weise zu verstehen, müssen wir uns daher der klassischen Grundlage Chinas zuwenden.
Unser Thema heißt: Das Wesen chinesischen Denkens. Wir werden das Thema in vier Abschnitten behandeln:
1. Die Lehre Lao Tse’s und der Taoismus.
2. Konfuzius und seine Schule.
3. Das Verständnis der Zeitfaktoren, die der menschlichen Geschichte unterliegen und im chinesischen Buch der Wandlungen untersucht wurden.
4. Das chinesische Ideal der Menschheit, die Gesellschaft in Freiheit Tung Jen, welche sich aus der Verschmelzung der drei vorigen philosophischen Richtungen ergibt.
1. Lao Tse
Das zentrale Thema des Taoismus ist in den folgenden zwei Versen des Tao Te King enthalten:
Der große Sinn ward verlassen,
da gab es Sittlichkeit und Pflicht.
Der große Sinn, die innere Bedeutung, Intensität, und der Zusammenhang des menschlichen Lebens, kann nur durch Introversion erreicht werden. Der Name, den man nennen kann, und der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn, heißt es im ersten Kapitel des Buches. Somit ist es das Grundproblem der menschlichen Existenz, wie man den Schwerpunkt im schöpferischen Kein des menschlichen Wesens errichten kann, von dem aus allein der Mensch ein integrierender Teil der Natur ist.
Sobald der Mensch bewusst ein Teil der schöpferischen Natur geworden ist, gibt es keine Notwendigkeit mehr, ihn mittels Gesetzen und Vorschriften zu regieren; Gesetze und Verfassungen sind nichts als leere Schalen. Darum ist das Ideal der Regierung das Wu Wei, das Wirken ohne zu streiten. Doch dieses wird nicht im indischen Sinn des Ahimsa verstanden, kein Übel zu tun, sondern als die Aufgabe, die Mitte des Lebens jenseits von Gut und Böse und jenseits von Name und Form zu erringen.
Die zwei Pole der Wirklichkeit sind Tao und Te, Himmel und Erde, der geistige Weg und die Tugenden des Lebens. Diese sind nun nicht aus Naturnotwendigkeit in Entsprechung, und das größte Hindernis auf dem Wege zu ihrer Verschmelzung sind die menschlichen Verfassungen und Einrichtungen.
In diesen Worten ausgedrückt gibt es viel Ähnlichkeit zwischen der taoistischen Philosophie und anderen Systemen, besonders der indischen Samkhya-Philosophie, deren Pole, Purusha und Prakriti, mit voller Berechtigung dem Begriffspaar Tao und Te gleichgesetzt werden könnten; ebenso die beiden Prinzipien Yang und Yin, auf die wir später noch einmal zurückkommen wollen. Doch gibt es einen großen Unterschied: alle indischen und europäischen philosophischen Systeme sind idealistisch, insofern als sie an die Gültigkeit der Formulierung zum Zwecke der Erkenntnis der Wahrheit glauben; selbst wenn sie behaupten, dass die Wahrheit jenseits von Name und Form sei, wie in der Vedanta-Philosophie oder in der katholischen Mystik, dann sind doch die Stufen, die zu der Befreiung führen, eben jene Namen und Formen, das heißt, die intellektuellen Begriffe. Hierzu im Gegensatz bleibt alles chinesische Denken immer im Rahmen der lebendigen Natur. Es kann sogar Naturprozesse verwenden, um menschliche Ereignisse zu beschreiben; und wenn dies getan wird — wie in dem Satz des Tao Te King die Weltherrschaft ist, wie wenn man kleine Fische brät — dann ist dies nicht im Sinne einer europäischen Allegorie zu verstehen. Im Gegenteil, die Chinesen versuchen das Prinzip eines raumzeitlichen Wechsels und Geschehens zu begreifen, von welchem der Vorgang des Fischebratens und der Vorgang der Weltherrschaft nur zwei verschiedene Ausdrücke bedeuten.
Seit den Entdeckungen der analytischen und komplexen Psychologie wissen wir viel mehr über die menschliche Psyche; und man hat erkannt, dass in der Einbildung des Traumzustandes der Mensch eins ist mit der Schöpfungskraft der Natur. Gleich wie die Geschlechtlichkeit sich mittels Blüten und Stempeln äußert, oder aber mittels Bienen und Schmetterlingen und auch über tierische und menschliche Geschlechtsorgane wirken kann, und ferner sogar der Dichter aus ihr die Inspiration zu einem Liebesgedicht schöpft, ebenso kann die menschliche Einbildungskraft denselben Sinn in mannigfach verschiedener Form ausdrücken. Diese Analogien sind nicht willkürlich, sondern haben ihr eigenes Gesetz. Und bei vielen Menschen, deren Psyche krank ist, kann das Verständnis dieser natürlichen Analogien einen Schlüssel geben, der dann zur Heilung führen mag.
Aber im Grunde sind es keine Analogien sondern Identitäten: der Welt liegen schöpferische Prinzipien zugrunde, mit denen sich der Wesenskern des Menschen vereinen muss, um aus seiner Wurzel heraus zu leben. Aus diesem Grunde hat die chinesische Philosophie andere Kriterien als die logische Kohärenz der lateinischen und griechischen Philosophie, oder auch als die genaue Übereinstimmung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung, wie indisches und deutsches Denken: die chinesischen Weisen versuchten das Bewusstsein auf der Basis der schöpferischen Erkenntnis zu begründen, wo Mensch und Naturprozesse noch eine Einheit bilden, sodass eine Aussage, die einen Teil eines Naturvorgangs beschreibt, sofort in all ihrer Tiefe und allen ihren möglichen Folgerungen verstanden werden kann.
Nirgendwo außer in China gibt es ein so genaues und tiefes Naturverstehen als allgemein akzeptierte Erkenntnisgrundlage; in anderen Weltgebieten haben nur manche Dichter eine solche innere Kommunion erreicht. Doch auch für diese blieb die Kommunion ein außergewöhnlicher Zustand; für die kultivierten Chinesen hingegen wurde diese Bewusstseinslage die Basis ihres kombinatorischen Denkens. Nachdem sie, sei es aus historischen Ursachen oder aus Gründen der Veranlagung, niemals den grammatikalischen oder technisch begreifbaren Teil der Wirklichkeit betont hatten, haben sie ein exaktes Organon aller natürlichen Korrespondenzen entwickelt, welches von den Naturprozessen über die Struktur des Menschen zu den Belangen der Gemeinschaft reicht. Wenn man in Europa solche Entsprechungen behauptete, dann wurden sie mit Recht in das Reich der Dichtkunst verdammt. Doch solange die Chinesen sich mit ihrer germinalen Vernunft, mit dem undifferenzierten Kontinuum identifizierten, waren sie des gemeinsamen Ursprungs von Natur und Denken gewahr, und alle Dekadenz entstand nur durch den Verlust dieses Zusammenhangs. Daher war für Lao Tse das Ideal das Kind und nicht der Erwachsene, das Weiche und nicht das Harte, und das Nachgebende im Gegensatz zum Aggressiven. Der Mensch hat die ewige Jugend in seinem innersten Wesenskern. Und wenn alle ihr Bewusstsein in diesem Kern zentrierten, dann würde die Welt in Ordnung sein, und das gemeinschaftliche Leben sich ohne Spannungen vollenden.
Hiermit kommen wir nun zum zweiten Grundanliegen der chinesischen Philosophie: das Problem des Reichs und der Gemeinschaft. Der Mensch steht nicht im Gegensatz zur Natur, sondern die Ordnung der Gemeinschaft sollte als ein Teil der Naturharmonie betrachtet werden. Wenn er sich nur in seinen schöpferischen Ursprung versenkt, dann wird auch alles gemeinschaftliche Leben blühen und die menschliche Gesellschaft im Zusammenklang mit der Natur gedeihen.
Lao Tse glaubte, dass nur die Rückkehr zu dieser Grundlage kindhafter Spontaneität und Schöpferkraft den Zusammenhang mit der großen Natur und dem Himmel erreichen könnte. Er zweifelte daran, daß eine bewusste Planung jemals dem Menschen zum Heil dienen würde. Doch diese bewusste Planung entstammt auch der Natur. Das rationale Denken hat seine berechtigte Rolle im menschlichen Leben. Wie nun die rationale Planung dem gesamten Leben ohne Zerstörung der Ganzheit eingeordnet werden könnte, und wie man also bewusst eine Gesellschaft im Einklang mit der Natur bauen könnte, dies zu ergründen war das Lebenswerk von Konfuzius und seiner Schule.
2. Konfuzius
Lao Tse hatte geglaubt, die einzig richtige Haltung bestünde in Wu Wei, dem Wirken ohne zu streiten. Dies müsste mit der Zeit ein Kraftfeld bilden, welches alle anderen Menschen zum richtigen Verhalten in Einklang mit der Gemeinschaft bringen würde. Er war überzeugt, daß niemand versuchen sollte, andere zu verändern, oder auch nur zu beeinflussen. Im Gegensatz hierzu hielt Konfuzius es für die erste Pflicht eines jeden, der bis zu seinem schöpferischen Ursprung durchgestoßen sei, eine aktive und bewusste Mitte des gesellschaftlichen Lebens zu werden: sein Ideal war Jen, der vollausgereifte Mensch. Anstatt, wie es heute üblich ist, Vornehmheit als einen Ausnahmezustand zu betrachten und den Durchschnitt für normal zu erklären, begriff er die wahre Menschlichkeit als die Erfüllung der menschlichen Norm und betrachtete den Durchschnittsmenschen als ein Wesen auf dem Weg zur Erreichung dieses Normalzustandes.
Doch wie könnte diese Menschheitsnorm zur Grundlage des Gemeinschaftslebens werden? Dies bringt uns zu folgender Frage: was ist der Unterschied zwischen einem Menschen, der aus seinem schöpferischen Ursprung lebt, und einem, der nur für seine täglichen Bedürfnisse existiert? Den Weg der Verwandlung in einen normalen Menschen sah Konfuzius in Li, den Gesetzen und Sitten. Die richtig verstandene Sittlichkeit dient dazu, echte Beziehungen zwischen den Menschen zu ermöglichen, ferner zwischen Mensch und Natur und schließlich zwischen Mensch und Himmel und zwischen den Lebenden und den Toten. Wenn eine Sitte im Einklang mit der Wahrheit ist, wird sie eine echte und gültige Beziehung zwischen Menschen zur Folge haben: sie wird dem Wesenskern des Menschen entspringen. Wenn sie dagegen nur ein Zufallsprodukt ist oder ein Brauch, und Menschen sie ohne Verständnis befolgen, dann wird dies nur ein anderer Anlass zur Verführung und Sklaverei.
Wahre Sitten können nur aus der Beobachtung wahrer Menschen abgeleitet werden; das heißt Menschen, deren Verhalten zeigt, dass sie die echte menschliche Norm erreicht haben. Sie können nicht aus reinem Denken oder Planen erfunden werden. Aus diesem Grunde studierte Konfuzius die Sitten des Altertums und bestimmte den Sinn derer, die wirklich als Grundlage menschlicher Verhältnisse dienen könnten und überdies anmutig und schön wären, so dass andere sie willig übernehmen würden. So war die konfuzianische Weltordnung auf Sitten gegründet, deren Vorbild wiederum die Musik war: gleich wie Musik nicht durch räumliches Denken zu begreifen ist, sondern in der Zeit ablaufen muss, um verstanden und genossen zu werden, ebenso müssen die Sitten durchgelebt werden, um ihren Wert zu offenbaren. Vor allem müssen alle Sitten von der Menschheit als Ganzes ausgehen: ein jegliches Gesetz, das in dem Ehrgeiz eines Einzelnen oder einer Gruppe wurzelt, muss notwendigerweise zerstörend wirken. Doch aus diesem Gesichtswinkel verlieren Glück und Unglück, Freude und Trauer, Blüte und Verfall ihren absoluten Charakter; sie sind sich wandelnde Umstände: wenn die Sonne am höchsten steht, dann muss sie sinken; und wenn der Mond neu ist, muss er zunehmen. Deshalb muss der wahre Mensch das Wesen und die Gesetzlichkeit der Zeit verstehen, und sich auf die richtige Handlung und das Verhalten im Rahmen der Sittlichkeit einstellen.
Die Welt der Sitten oder, wie wir heute sagen würden, der menschlichen Kultur, ist wichtiger als das physische Leben. So mag die Erfüllung des wahren Verhaltens sogar den persönlichen Tod verlangen, wie es in dem folgenden Satz des Buchs der Wandlungen dargestellt ist:
Man muss durchs Wasser.
Es geht über den Scheitel.
Unheil. Kein Makel.
Für den Konfuzianer war das irdische Leben nur ein Stadium in der kosmischen Existenz. Aus diesem Grunde wurde der Buddhismus in seinen religiösen Behauptungen, nämlich als existentielle Entscheidung bereitwillig akzeptiert. Während für den Taoisten das Tao nur über die Meditation erreichbar gewesen war, gab es nun dank Buddha eine Methode, das irdische Leben ins richtige Verhältnis auch zum Jenseits zu bringen. Doch bezog sich dieses nur auf den persönlichen Menschen: die Aufgabe des Menschen auf der Erde in Gemeinschaft war durch das Ideal Jen, die menschliche Norm bestimmt, welche Konfuzius in zwei Ideogrammen ausdrückte:
1. Bewusstsein der Mitte, dargestellt durch die Mitte des Herzens.
2. Bewusstsein des Gleichklangs, dargestellt in dem vereinten Ideogramm des Herzens und des Zeichens für wie, das heißt, wie Dinge ausgeführt werden.
Wenn nun der Mensch seinen Schwerpunkt im Wesenskern gefunden hat, oder — um es buddhistisch auszudrücken — wenn er der Erleuchter seines eigenen Bewusstseins geworden ist, dann allein kann er das Wesen auch von Anderen verstehen. Dann wird er die wahre Gemeinschaft mit anderen im richtigen Verhalten erreichen. Konfuzius war überzeugt, dass alle Zwistigkeiten und Kämpfe zwischen Menschen aus falschen Gewohnheiten herrühren; Menschen sind von einander durch Konventionen getrennt, deren geistige Bedeutung nicht verstanden wird, oder die keine haben. Wenn aber der einzelne aus seiner Mitte lebt, dann allein kann er gerecht und unparteiisch zu anderen sein. Aus seiner inneren Intensität erfährt er die rechte Beziehung zum Mitmenschen und auch zur Mannigfaltigkeit der Natur; er wird dann nicht mehr versuchen, die Welt denkerisch zu simplifizieren, sondern fähig werden, sie in ihrem Reichtum zu umfassen.
Doch nicht jeder ist fähig, diese zweifältige Menschlichkeit zu erreichen: einerseits das Bewusstsein der persönlichen Mitte, und andererseits die Fähigkeit, andere gerecht und unparteiisch zu behandeln. Konfuzius bestimmte den menschlichen Wert nach den fünf Reifestufen:
Der gemeine Mensch, der nur für die Befriedigung seiner Bedürfnisse lebt und noch nicht ein Mensch im eigentlichen Sinn genannt werden kann.
Der Würdige, der versucht, seine Gier zu meistern und auch für das Wohl der Mitmenschen zu arbeiten. Er kann als Lehrling der Menschlichkeit betrachtet werden.
Das dritte Reifestadium wird der Edle geheißen: er weiß, dass der Mensch ein geistiges Schicksal hat und dass der Sinn des menschlichen Lebens darin besteht, dies Schicksal zu verstehen und zu realisieren; also im Einklang mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu leben. Der Edle versucht, irdische Erfüllung und himmlische Bestimmung zu vereinen; er lebt immer sozusagen dazwischen.
Das nächste Stadium ist der Berufene: er muss nicht nur sein persönliches Schicksal erfüllen, sondern auch das Wissen um den Sinn und Zweck menschlicher Existenz anderen darlegen und erläutern. Er verkündet den wahren Weg, und wird daher ein menschlicher Führer.
Doch auch als Führer muss er immer noch streben und weiterlernen. Die höchste menschliche Reife hat der Heilige Weise, der nur noch da ist und ausstrahlt, bei dem irdische Erfüllung und himmlische Bestimmung einsgeworden sind und sich die Weisheit in äußerer Schönheit und Anmut verkörpert hat. Der konfuzianische Heilige ist, im Unterschied zum indischen Asketen und zum christlichen Märtyrer, ein voll ausgereifter und alle Möglichkeiten erfüllt habender Mensch. Hier verschmelzen das taoistische und das konfuzianische Ideal: er erfüllt seine natürlichen Möglichkeiten, lebt aus dem Tao, dem Weltsinn heraus, und zeigt durch sein Beispiel anderen den wahren Weg; sein Ideal schließt selbst den indisch-buddhistischen Bodhisattva ein, der geschworen hat nicht in die Seligkeit einzugehen, bevor das letzte irdische Wesen das Große Leben erreicht hat.
Der wahre Mensch bildet die Brücke zwischen Himmel und Erde, er erfüllt sein natürliches und auch sein geistiges Potential. Er ist kein Übermensch, sondern bedeutet die Erfüllung der menschlichen Norm; an sich könnte jeder Mensch dieses Ideal erreichen. Heraus erhellt der Sinn der menschlichen Geschichte: er bedeutet, allen anderen Menschen auf der Erde zu verhelfen, zu diesem Normalzustand zu gelangen.
Doch wie im Einzelleben kann auch im Gemeinschaftsleben dieses nur in Stadien erreicht werden. Konfuzius wußte, daß in jeder Kulturperiode nur eine bestimmte Stufe erfüllt werden kann; zu seiner Zeit war es das Ideal des Edlen im Rahmen der patriarchalischen Familie. Doch wie können wir die Grundlage dieser menschlichen, natürlichen und kosmischen Bestimmung und Entwicklungsordnung verstehen? Hier griffen der Taoismus sowohl als auch der Konfuzianismus auf ein Grundwissen zurück, das durch König Wen und den Herzog von Dschou um 1300 v.Ch. auf der Basis von Überlieferungen der Vorzeit formuliert worden war: das schon zitierte Buch der Wandlungen, der I Ging.
3. I Ging
Von allen chinesischen Schriften ist dieses Buch am meisten in Europa interpretiert worden. Doch nur wenige Kommentatoren waren fähig, seinen wahren Sinn zu verstehen, da dieser unmöglich mittels der gewohnten europäischen Kategorien zu begreifen ist. Wenn in Europa die Zeitprozesse betrachtet wurden, so entstanden zwei gegensätzliche Philosophien: entweder eine Philosophie des Werdens und der unwiderruflichen Verwandlung, wie bei Heraklit, oder der ewigen Wiederkehr, wie bei Nietzsche. Deshalb wird in den meisten heutigen Philosophiegeschichten das Buch der Wandlungen: als reines Orakelbuch entwertet, welches zu einem früheren mythologischen Stadium der Menschheit zu rechnen sei und keinen Wert für die moderne Welt habe.
Doch dieser moderne Mensch hat keine Handhabe, um die Welt der Wandlungen und Veränderungen zu erfassen: die moderne Geschichte stellt sich als eine Folge zufälliger Ereignisse dar, und selbst wo die dialektische Theorie der Wandlung einbezogen wird, wie im Kommunismus, wird diese auf die materielle Natur und die wirtschaftlichen Aspekte der menschlichen Existenz beschränkt. Aus diesem Grunde ist die Botschaft des I Ging immer noch gültig und wird wohl für ewig einer der wesentlichen Wissenszweige bleiben: sie gründet sich auf die Tatsache, daß es nicht eine, sondern zwei Zeitarten gibt; die eine kehrt wieder, wie die Jahreszeiten, die ewige Wiederkehr Nietzsches; und die andere wandelt sich unwiederbringlich in einen neuen qualitativen Zustand nach dem Ausspruch Heraklits Du kannst nicht zweimal in denselben Fluß steigen.
Der I Ging ist das Ergebnis der Bemühungen der chinesischen Weisen des Altertums, die Beziehungen zwischen den beiden Zeitqualitäten, der wiederkehrenden und der evolvierenden Zeit, zu bestimmen. Sie waren sich darüber im klaren, daß sie keine endgültige Interpretation geben konnten, sondern daß dieses Wissen in jedem Zeitalter neu formuliert werden müsse, wie sie es selbst in der großen Abhandlung des I Ging, Da Tschuan, bekundeten:
So ist der Geist an keine Form gebunden,
und das Buch der Wandlungen an keine bestimmte Gestalt.
Alle Wandlungen in der Welt lassen sich auf die Wechselwirkung dieser zwei Zeitprinzipien zurückführen. In der Welt des Geistes und der schöpferischen Natur wurden sie als Yang und Yin, als das Schöpferische und das Empfangende, bezeichnet. Auf Erden sind die beiden Pole das Starke und das Nachgiebige, das Männliche und das Weibliche. Das Starke handelt, doch wird es durch den Impetus seines Handelns in unbekannte Richtungen davongetragen; das Schwache gibt nach, doch sich aufgebend erfüllt es seine eigene Möglichkeit.
Das Schöpferische und das Empfangende bilden nun in der Weiterentwicklung verschiedene Triaden: einmal Schwach und zweimal Stark, zweimal Schwach und einmal Stark, dreimal Schwach, oder dreimal Stark. Unter Berücksichtigung der Reihenfolge dieser Elemente entstehen acht ursprüngliche Formungsprinzipien der Zeit: Kiën und Kun, Li und Kan, Dschen und Sun, und schließlich Dui und Gen.
Kiën ist das Schöpferische auf Erden,
Kun das Empfangende.
Li ist die fixierende Energie oder die Haftfähigkeit, gleich dem Feuer,
Kan die Gefahr oder die leere Form, der Abgrund. Es soll die Charakteristik des Wassers haben, das immer gleichmäßig ruhig mit der gleichen ungestörten Oberfläche über seichte und tiefe Stellen fließt.
Dschen ist das Erregende, das eine neue Bewegung beginnt,
Gen das ganz Ruhige, die Fermentation, welche eine neue Schöpfung und Empfängnis vorbereitet.
Dui, das Heitere, erlaubt die freie und ungestörte Entwicklung der Anlagen,
Sun, das Sanfte, fügt sich dem leisesten Windhauch.
Die acht Grundprinzipien wurden von den mythischen Kulturheroen, wie Kaiser Shun, ungefähr 2300 v. Chr. geprägt. Diese Prinzipien vereinen sich zu raumzeitlichen Situationen, die aus je sechs Elementen bestehen. Aus der Vereinigung der Prinzipien entstehen acht mal acht, also vierundsechzig Situationen, von denen sich jede in jede andere wandeln kann. Zum Beispiel ist das Empfangende oberhalb des Schöpferischen, das Symbol Tai, das Zeichen für Frieden, welches das elfte Kapitel des I Ging bildet: das Schöpferische begibt sich unter das Empfangende, es vertraut sich der Führung der geistigen Keime an. Das entgegengesetzte Zeichen, mit dem Schöpferischen über dem Empfangenden, bedeutet Pi, die Stockung, den Beginn der Auflösung; die Harmonie zwischen Himmel und Erde ist zerstört.
Der I Ging besteht aus Zeichen, Bildern, Urteilen und Wandlungen. Die Zeichen wurden von den mythischen Kulturheroen geschaffen, die Bilder von dem König Wen, die Urteile durch den Herzog von Dschou, und die Kommentare zu den Wandlungen von Konfuzius und vielen anderen.
Auf ersten Blick erscheint das Buch für jemanden, der in indischer oder europäischer Philosophie ausgebildet ist, wie ein Spiel mit Analogien und Magie, und das Buch der Wandlungen: wird abwertend ein Orakelbuch genannt. Nun kann kein Zweifel bestehen, dass es als solches sehr oft gebraucht wurde und auch noch wird. Doch hier müssen wir uns an die verschiedenen Reifestufen erinnern: für jede hat das Buch eine andere Bedeutung.
So könnte für den gemeinen Mann, der nur für die Befriedigung seiner Wünsche und Bedürfnisse lebt und darin dem Gesetz des Zufalls unterliegt, das Studium des Buches die beste Entscheidung zur Erreichung seiner Ziele geben.
Der Würdige kann durch die Meditation der Zeichen die Grundlage der Mannigfaltigkeit in der Welt begreifen und dadurch einen ruhigen und heiteren Gemütszustand erreichen.
Der Mensch des dritten Stadiums, der Edle, welcher versucht, irdische Erfüllung und geistige Vollendung zu vereinen und ein Schicksal zu haben, wird im Buch der Wandlungen seinen Weg hierzu finden.
Dem Berufenen wird das Buch dazu dienen, die Gesetze der Wandlungen in Sitten zu inkarnieren, derart, dass die Beziehungen zwischen Menschen harmonisch vor sich gehen und keiner den anderen für seine privaten Ziele ausnutzen kann. Ferner wird er in den Bildern Inspirationen für kulturelle Einrichtungen finden, wovon Konfuzius viele Beispiele zitiert. Meister Kung glaubte, dass er selbst dem vierten Stadium zugehöre, aber er strebte danach, das fünfte zu erreichen, dessen einzige Beispiele für ihn die Kulturheroen, der Kaiser Shun und der König Wen waren.
Das höchste Stadium der menschlichen Entwicklung, der Heilige Weise, wird das Wissen der Schöpfungsprinzipien mit seiner Natur so verschmolzen haben, dass er durch sein bloßes Dasein einen harmonisierenden und herrschenden Einfluss in der Gemeinschaft darstellt. Konfuzius drückte das mit folgenden Worten aus: Er gleicht dem Polarstern, um den alle anderen Sterne kreisen, der aber selbst immer seinen Platz behält.
So hat das Buch der Wandlungen: verschiedene Bedeutungen für die verschiedenen menschlichen Reifestufen. Doch hier müssen wir eine andere wichtige Unterscheidung treffen, die zu den Behauptungen der rationalen, logischen Philosophie im Gegensatz steht: der I Ging untersucht und bestimmt eine Gedankensphäre, deren bloße Existenz in Europa und Indien nicht einmal vermutet wurde. Wenn in der westlichen Philosophie ein Mensch als aus seinen Instinkten befreit erachtet wurde, wurde deren Stelle sofort durch die Gebote der Religion eingenommen. Und die Beziehung zwischen Freiheit und Notwendigkeit wurde mit dem Verhältnis von der Zeit zum Raum identifiziert: der Raum sei kausal determiniert, aber die Zukunft sei nicht determiniert, und die Freiheit des Individuums läge in seiner Fähigkeit der Wahl.
Erst mit der modernen Physik wurde die Einheit von Raum und Zeit wieder hergestellt. So ist diese Auffassung ungültig geworden, und viele wissenschaftlich eingestellte Menschen glauben an eine mechanische Prädestination, die noch viel hoffnungsloser erscheint als die calvinistische Auffassung. Doch die chinesische Philosophie hat nie diesen Fehler begangen; sie betrachtete immer Raum und Zeit als eine Einheit. Darüber hinaus war sie aber zu einer wichtigen Erkenntnis gekommen: die Zeit fließt nicht gleichmäßig dahin. Beide Zeitweisen, die Entfaltungszeit und die kreisförmige Zeit, Yang ebenso wie Yin, haben nur Punkte, wo eine Veränderung möglich ist, Kreuzungen, wo es Wandlungen gibt, und etwas neues beginnen kann und dann kann wiederum die Zeit gleichmäßig und unverändert nach dem Gesetz ihrer eigenen Trägheit für eine gewisse Spanne weiterfließen, ohne daß es überhaupt die Möglichkeit einer Veränderung gäbe.
Die Sphäre der Schöpfungsprinzipien ist von einigen mittelalterlichen Philosophen beschrieben worden. Zum Beispiel erkannte Augustin ihre Existenz; er nannte sie germinale Urgründe. Doch wurde diese Idee niemals von der orthodoxen und logischen Philosophie aufgenommen. Hingegen war in China seit König Wen das Gesetz, das den Schöpfungsprinzipien zugrunde liegt, bis ins Einzelne bestimmt worden. Und sie wurden nicht nur als Grundlage der Natur der menschlichen Einbildungskraft und der Kultur verstanden; im Jahre 1300 v. Chr. schuf der Herzog von Dschou im Gefängnis die Urteile, wie man sich am besten in einer gegebenen Situation verhalten könne, und gab damit verschiedene Wirktendenzen der Zeit.
Die ersten bezeichnete er mit Heil und Unheil. Mit diesen zeigte er, ob eine Bewegung sich nach aufwärts entwickelt, oder zum Verfall führt.
Als zweites bestimmte er zwei menschliche Haltungen, Reue und Scham. Mit dem ersten meinte er, dass die Lage immer noch durch das strebende Individuum zum Guten geführt werden könne; mit Scham deutete er an, dass der Mensch sich in der richtigen Geisteshaltung zurückziehen müsse, er könne nichts mehr tun.
In Gegensatz zu den letzteren standen die zwei positiven Richtungen, Beharrlichkeit und Gelingen. Das letzte verstärkt durch den Satz: es ist Förderlich, das große Wasser zu durchschreiten. Das erste Urteil ermutigt den Menschen, in derselben Richtung seiner Bemühungen fortzufahren, das zweite fordert ihn zu einem Entschluss auf.
So haben wir in der chinesischen Philosophie an Stelle des primitiven freien Willens der europäischen Philosophie sechs mögliche Einstellungen zur Zeit: Reue, welche einen Fehler noch ins Gute wenden mag; Scham, also Erkenntnis des Fehlers und Rückzug. Ferner: Durchhalten und Gelingen, also Fortfahren auf dem Weg und der Entschluss zu etwas Neuem, und schließlich zwei außer der menschlichen Entscheidung liegende Faktoren, die er als Naturgesetze akzeptieren muss, Heil und Unheil: hier hat sich der Mensch dem Naturlauf unterzuordnen. Nur eines der sechs Urteile, die mit Gelingen bezeichnete Entscheidung, bedeutet, dass man an einem Kreuzweg angekommen ist, so dass die Wahlfreiheit nur eine von sechs möglichen freien Einstellungen bedeutet, für den Menschen, der zwischen seiner geistigen Vollendung und irdischen Erfüllung lebt. Nur dieser Mensch, sagt Konfuzius, formt die Mitte der großen Triade mit Himmel und Erde.
4. Tung Jen · Gesellschaft in Freiheit
Der I Ging ist keine mythologische Dichtung, sondern bedeutet den ersten Versuch, die Gesetze für das menschliche Verhalten im Einklang mit der schöpferischen Natur zu bestimmen. Seine wichtigste Bedeutung liegt in den Hinweisen für eine wahre Ordnung des gesellschaftlichen Lebens: für die Errichtung der Gesellschaft von freien Menschen auf der Erde, wie sie im dreizehnten Kapitel des I Ging, Tung Jen, dargestellt wird. Dieses Kapitel ist immer noch eine Botschaft für die Zukunft; auf seiner Grundlage könnte dereinst eine Gesellschaft entstehen, welche die kantische Maxime erfüllen würde, daß der Mensch nicht nur das Mittel, sondern auch das Ziel des Staates darzustellen habe.
Das Zeichen Tung Jen beschreibt die Errichtung einer solchen Gesellschaft in sechs Stadien, die wir nun im Einzelnen verfolgen wollen.
Im Anfang steht das Urteil:
Gesellschaft mit Menschen im Freien: Gelingen.
Fördernd ist es, das große Wasser zu durchqueren.
Fördernd ist des Edlen Beharrlichkeit.
Dies heißt, daß nur für das gemeinsame Wohl der Menschheit solch eine Gesellschaft entstehen kann. Seine Zeichen sind innere Klarheit und äußere Stärke. Die zwei positiven Richtungsweisen sind vereint Gelingen, das bedeutet die positive Entscheidung; und die Beharrlichkeit des Edlen, also des Menschen, der sein Leben im Einklang mit seiner geistigen Aufgabe lebt. Doch das Wort Heil ist nicht inbegriffen; also ist die Errichtung einer solchen Gesellschaft nicht naturnotwendig, sondern kann nur aus dem Willen strebender Menschen geboren werden.
Die wahre Gesellschaft darf sich nicht auf der mittelmäßigen Gleichheit im Sinne des niedrigsten gemeinsamen Nenners gründen, sondern auf dem Verständnis der wirklichen Unterschiede zwischen Menschen, die sich auf die Forderungen gründen, welche sie an sich selbst stellen. Sie muß Unterschiede in Vermögen und Können einschließen, und ferner sich auf das Wissen gründen, welche Dinge lebensnotwendig sind, und wie sie verfügbar gemacht werden können.
Wenn diese Gesellschaft nun einmal in Angriff genommen wird, dann würde ihre Entwicklung folgende sechs Stadien aufweisen:
Neun auf erstem Platz:
Gemeinschaft mit Menschen im Tore. Kein Makel.
Kommentar des Konfuzius:
Aus dem Tore gehen, um mit Menschen Gemeinschaft zu machen, wer sollte dabei einen Makel finden.
Dies bedeutet: die vereinigende Idee muß sich außerhalb aller existierenden Interessengruppen und Streitigkeiten befinden; sie muß auf etwas Neuem gründen, welches den bestehenden Umstand nicht gefährdet. Ferner hat sie in aller Öffentlichkeit zu beginnen, ohne Geheimnisse.
Sechs auf zweitem Platz:
Gemeinschaft mit Menschen im Klan: Beschämung.
Konfuzius:
Gemeinschaft mit Menschen im Klan ist der Weg zur Beschämung.
Sobald solch eine Gesellschaft erscheint, werden die alten Interessengruppen versuchen, sich wieder zu behaupten, und werden die Begeisterung für das gemeinsame Ziel für ihren persönlichen Vorteil missbrauchen wollen. Solch ein Stadium muss negativ sein, und die Keime der Fehlentwicklung müssen deshalb schon zu Beginn zerstört werden. Zu diesem Zeitpunkt kann alles vernichtet werden, wie es schon so oft im Laufe der Geschichte geschehen ist. Sobald Menschen die Wahrheit für persönliche Ziele missbrauchen, werden selbst positive Anstrengungen sich negativ auswirken und zum Grund des Streites werden, der schließlich zur Vernichtung führen muss.
Doch auch bei bester Möglichkeit wird die Gesellschaft eine Periode der Reifung benötigen. Dieses nächste Stadium wird in folgender Weise beschrieben.
Neun auf drittem Platz:
Versteckt Waffen im Dickicht, steigt auf den hohen Hügel davor. Drei Jahre lang erhebt er sich nicht.
Konfuzius:
Versteckt Waffen im Dickicht, denn er hatte einen Harten zum Gegner. Drei Jahre lang erhebt er sich nicht. Wie sollte es denn gehen?
Die Reifeperiode wird drei Jahre dauern, das heißt, drei Entwicklungsabschnitte, bis der Mensch imstande sein wird, seine neuen Waffen zu verwenden: er muss erst wachsen und stark werden. Obwohl das Ziel die menschliche Gesellschaft in Frieden ist, ruft sie natürlich die Feindschaft aller Kasseninteressen und nationalen Gruppen hervor.
Neun auf viertem Platz:
Er steigt auf seine Mauer, er kann nicht angreifen, Heil!
Konfuzius:
Er steigt auf seine Mauer, es liegt im Sinne der Lage, dass er nichts machen kann. Sein Heil besteht darin, dass er in Bedrängnis kommt und darum zum Gesetz zurückkehrt.
Wenn einmal die Periode der drei Jahre der Festigung beendet ist, dann wird die neue Gesellschaft sich in der Welt behaupten wollen. Sie wird nicht angreifen, aber in vollem Tageslicht in der Öffentlichkeit stehen. Auf ihren Mauern stehend, was bedeutet, die Freiheit innerhalb ihrer Grenzen bewahrend, wird sie sich außerhalb alles Streites halten. Hier steht das einzige Mal das Urteil Heil, das heißt, die Zeit selbst wird das Ziel zur Vollendung bringen, obwohl die Menschen, wie Konfuzius in seinem Kommentar betont, den Mut verlieren könnten.
Doch ewig kann sich die Gesellschaft nicht aus dem Gegensatz heraushalten. Der Gegensatz ist menschlich; er beruht auf der Tatsache, dass die Menschheit schon auf der physischen Ebene gemäß den Prinzipien Yang und Yin, Mann und Weib, geteilt ist. Die Verfolgung des gemeinsamen Ziels muß also auch zu inneren Zwistigkeiten führen, welche in folgender Weise dargestellt werden.
Neun auf fünftem Platz:
Die gemeinsamen Menschen weinen erst und klagen, aber nachher lachen sie. Nach großen Kämpfen gelingt es ihnen, sich zu treffen.
Konfuzius:
Der Anfang der gemeinsamen Menschen ist zentral und gerade. Nach großen Kämpfen gelingt es ihnen sich zu treffen, das heißt, sie siegen.
Der deutsche Übersetzer des I Ging, Richard Wilhelm, lernte von den chinesischen Kommentatoren die klassische Deutung dieses Stadiums. Konfuzius hatte behauptet, dass zu seiner Zeit die Gesellschaft in Freiheit nicht erreicht werden könne. Doch wenn einmal die Welt in zwei gegensätzliche Lager geteilt wäre, dann werde die Welteinheit — denn der I Ging bezieht sich immer auf alle Menschen unter dem Himmel — als die Gesellschaft der Menschen in Freiheit aus ihrer Wechselwirkung entstehen. 1910, als Richard Wilhelm dies erfuhr, schien dieser Zustand weit entfernt; doch heute, in der Teilung der Welt in die gegensätzlichen Lager Demokratie und Kommunismus, ist die Zweigliederung eine Tatsache geworden. Die Gesellschaft in Freiheit wird jedoch nicht über Kämpfe kommen, sondern, wie es heißt, durch das Lachen, die Freude. Die Menschen werden plötzlich den Sinn des gemeinsamen geistigen Strebens verstehen und damit die Probleme des Gegensatzes erledigen.
Neun auf oberstem Platz:
Gemeinschaft mit Menschen auf dem Anger. Keine Reue.
Konfuzius:
Gemeinschaft mit Menschen auf dem Anger, der Wille ist noch nicht befriedigt.
Das erste Stadium war vor dem Tor, und das zweite ist auf der Wiese vor der Stadt. Die wahre Gesellschaft bleibt jenseits aller Interessengruppen und tritt nicht einmal in Konflikt mit diesen. Auf der Wiese, das heißt, außerhalb allen Streites kann alles unparteiisch beurteilt werden: die neue Gesellschaft wird als etwas Zusätzliches, als etwas jenseitiges entstehen, und wird die Menschen ohne Zwang vereinen. Doch wird sie stets Aufgabe bleiben, wie der letzte Kommentar von Konfuzius sagt: der Wille ist noch nicht befriedigt; sie kann nur durch den Willen, die absichtliche Bemühung weitergetragen werden.
In der konfuzianischen Zeit konnte das Ideal einer Gesellschaft in Freiheit, wie wir schon sagten, nicht erreicht werden. Doch dies hatte noch einen zweiten Grund: das Kulturideal war die Reifestufe des Edlen, des Menschen, der seinen Ort in der Gesellschaftsordnung kennt und nicht darüber hinaus strebt. Darum wurde damals das Buch der Wandlungen, welches die mögliche Erfüllung jeglicher Situation zeigt, hauptsächlich dazu verwendet, um eine persönliche oder politische Lage zu klären, und deshalb auch als Orakelbuch. Doch die freie Gesellschaft kann nur hervortreten, wenn wir versuchen, die Wandlung der Lage ohne Rücksicht auf unser persönliches Schicksal zu verstehen, das heißt, wenn wir vom Stadium des Edlen zum Stadium des Berufenen schreiten, dessen Aufgabe die Errichtung der Gesellschaft in Freiheit auf Erden ist.
Von Anfang an hat das Buch der Wandlungen auch diese höchste Bedeutung einbegriffen. So heißt es schon im ersten Zeichen, dem Schöpferischen, Kiën: Indem der heilige Mensch große Klarheit hat über Ende und Anfang und die Art, wie die sechs Stufen jede zu ihrer Zeit sich vollenden, fährt er auf ihnen wie auf sechs Drachen gen Himmel.
Die chinesische Kultur hat somit ein Wissen hervorgebracht und formuliert, das es nirgendwo anders auf Erden gibt. Das neue China hat in seiner Rückkehr zur dialektischen Wurzel es erst einmal verleugnet und sich mit nur einer Seite des weltweiten Gegensatzes identifiziert. Doch damit ist dieses Wissen aus seiner nationalen Bedingtheit gelöst, und allgemeines Menschheitsgut geworden: aus ihm heraus wird wohl dereinst die Grundlage zur wahren menschlichen Gesellschaft in Freiheit gelegt werden, die sich schon heute überall als nächstes Menschheitsziel abzuzeichnen beginnt.
© Arnold Keyserling 1964