Wang Wei
Als Antwort an Pei Di
Mächtig strömt der kalte Fluss in die Weite,
trüb der Herbst, endlos Nebel und Regen.
Den Zhongnan-Bergen gilt deine Frage:
mein Herz weiß sie jenseits der weißen Wolken.
Beschaulich die Zeit am Wang1 verbringend,
als Geschenk für Pei Di, den Gelehrten
Von dunklerem Grün sind nun die kalten Berge
und täglich langsamer fließt der herbstliche Fluss.
Auf einen Stock gestützt, vor meinem Gatter,
lausche ich den Zikaden im Abendwind.
Letzte Strahlen der Sonne berühren den Steg,
einsamer Rauch steigt auf über dem Weiler.
Betrunken bist du, wie vormals Jie Yu2,
wild singend vor den Fünf Weiden3.
- Wang Wei’s Landsitz befand sich am Wang, einem Fluß südlich der Hauptstadt Chang’an am Fuß der Zhongnan-Berge
- Jie Yu, der Verrückte von Chu, wird in den Analekten des Konfuzius erwähnt, wo er diesen verspottet: Oh Phönix, oh Phönix, dahin ist deine Tugend! Nicht geändert werden kann die Vergangenheit, doch hüte dich vor der Zukunft! Zu Ende, zu Ende! Des Verderbens, wer sich heute den Staatsgeschäften widmet.
- Der Herr von den Fünf Weiden war der Dichter Tao Yuanming, der seinen Bamtenposten niederlegte, sich aufs Land zurückzog und, in Armut, sein Leben nur mehr dem Wein und der Poesie widmete.
Nicht-Sein (wu 無) ist eine der Bezeichnungen, die der Daoismus für den Urgrund und Ursprung des Universums verwendet. Strenggenommen ist es weniger ein philosophischer Begriff als ein Behelf, der auf das unbegrenzte schöpferische Potential der Wirklichkeit verweist, das alles Sein umgebende Mysterium, zu dem Bewusstsein, Sprache oder Logik keinen Zugang besitzen.
Das Nicht-Sein gebiert das Sein, der Leere entspringt der ursprüngliche Atem (das ursprüngliche Qi 氣), der sich zu all den Dingen und Wesen der Wirklichkeit entfaltet. Obwohl sich das Nicht-Sein der Sprache und den Sinnen entzieht – es ist unsichtbar, unhörbar, ungreifbar -, liegen seine Wirkungen doch offensichtlich vor aller Augen.
Ziehende Wolken, das Singen der Zikaden, der Dunst auf den Bergen, all dies sind keine klar und deutlich voneinander abgegrenzten Dinge, sondern Stadien im die ganze Natur umfassenden und durchdringenden Prozess der Manifestation des einen ursprünglichen Atems. In der Wirklichkeit sind die Dinge nicht klar voneinander geschieden, vielmehr, aus etwas Abgründigem und Chaotischem entstanden, verschwimmen sie, wandeln sich, gehen ineinander über und erscheinen darum in ihrem Innersten unscharf, vage, wie fließend.
Diese Sicht der Welt hat ihren Hintergrund sowohl im chinesischen Buddhismus mit seiner Lehre, dass Form Leere ist und Leere Form, dass keinem Ding Substanz zukommt, dass alles im Universum wechselseitig abhängig ist und sich in einem permanenten Fluss des dauernden Entstehens und Vergehens befindet, als auch im Daoismus, der im uranfänglichen Atem das Wirken des ungreifbaren und unsagbaren Dao erkannte.
Weiße Wolken, der trübe Himmel, Herbstregen, endloser Nebel, Rauch, der über Dorfhütten hängt, ein langsam dahinfließender Fluss, das Zirpen der Zikaden in der Abenddämmerung, all diese Bilder in den obigen Gedichten dienen demgemäß weniger der Beschreibung der äußeren Landschaft oder dem Ausdruck der inneren Stimmung des Dichters, sie sind vielmehr Zeichen für die eigentliche Wirklichkeit in und hinter den Bildern, für das So-Sein der Dinge, die in den Dingen sich äußernde Leere bzw. den Atem des Ursprungs, in dem Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, Einheit und Vielheit sich auf geheimnisvolle Art berühren und zusammenfallen.
Im dichterischen Akt, wenn die Dinge nicht als Objekte, sondern in ihrer Unschärfe wahrgenommen und geschildert werden, findet eine geistige Öffnung statt, durch die sich der Sinn des großen Prozesses der Wirklichkeit in seinem So-Sein erschliesst. Die chinesische Dichtkunst hat hierfür einen Begriff geprägt: „Eintreten in den Geist“ (rushen), das direkte, intuitive Erfassen des inneren Seins der Dinge.
Hierbei ist es gerade das Vage, Verschwimmende und Unklare, das in sich die Möglichkeit der Öffnung birgt, der Transparenz und der Weitung, die dem Menschen dann erlauben, die Welt als vitale Bewegung des Atems zu erleben und somit die Einheit von Mensch und Natur, von Ursprung und entfalteter Welt zu realisieren.
Hier ist auch der Bezug zur Qigong-Praxis zu finden. Für Kursaussendungen übersetze ich gerne chinesische Gedichte, da ich finde, dass sie besser als jede theoretische Abhandlung die Praxis des Qigong inspirieren und anleiten können, entspricht doch der sich in den Gedichten spiegelnde geistige Prozess dem inneren kreativen Prozess des Qigong.
Die Quelle jeder künstlerischen Kreativität ist in der Sicht der Chinesen identisch mit dem Ursprung des Universums (dem ursprünglichen Atem). Auch der Mensch in seinem körperlichen Dasein wird gespeist aus dieser dunklen Quelle im Chaotischen und Vagen, die der Sprache unzugänglich ist und deren Wirken nie von Verstand und Willen kontrolliert und beherrscht werden kann. Qigong zu üben, heißt darum nicht, am Qi zu arbeiten und es durch Disziplin und Anstrengung zu vervollkommnen, sondern bedeutet im Gegenteil, dem Körper und seinen Energien zu erlauben, von selbst in den großen Zusammenhang des ursprünglichen Qi zurückzufinden und so das individuelle Leben in seiner schöpferischen Aktualisierung als eins mit dem gesamten Geschehen zwischen Himmel und Erde zu erleben, und somit: von Grund auf zu regenerieren.
© Árpád Romándy