Das Daodejing des Laozi beginnt mit folgenden Versen:
Der Weg, von dem gesprochen werden kann, ist nicht der dauernde Weg.
Der Name, der gegeben werden kann, ist nicht der dauernde Name.
Was ohne Namen, ist der Anfang von Himmel und Erde,
was Namen hat, ist die Mutter der zehntausend Dinge.
Darum, stets ohne Begehren, sieht man seine Wunder,
stets erfüllt von Begehren, sieht man seine Begrenzungen.
Eins sind diese beiden in ihrem Ursprung,
doch tragen sie verschiedene Namen.
In ihrer Einheit heißen sie das Dunkle,
dunkel und noch dunkler,
Tor der vielen Wunder.
Was hier in diesem ersten Kapitel des Daodejing angesprochen wird, ist ein Grundthema daoistischer Philosophie, nämlich, dass die durch die Sprache geprägte Wirklichkeit, in der wir Menschen leben, letztlich nur die Oberfläche der eigentlichen Wirklichkeit darstellt. Die eigentlichen Wurzeln des Menschen reichen weit unter diese Oberfläche, in eine Sphäre, die als nicht-sprachliche, ungeschiedene Einheit immer ein für das Bewusstsein unerkennbares Mysterium bleibt.
Alle klassischen Texte des Daoismus verstehen diese grundlegende, ungeschiedene Einheit als dynamisches, transformatorisches Feld der ursprünglichen Energie Qi. Im frühen Daoismus häufig verwendete Begriffe wie Dao (Weg), Hundun (Chaos), Yuanqi (ursprüngliches Qi), Yi (Eins) oder Taiyi (Große Einheit) können alle als Synonyme für dieses Feld gelesen werden, das einem geheimnisvollen Ursprung entspringt, seine konkrete Manifestation in der Vielfalt der Dinge und Geschehnisse findet und dessen Charakteristikum die dauernde Transformation ist.
Im 42. Kapitel des Laozi wird die Manifestation dieses Feldes als Progression von Zahlensymbolen präsentiert:
Das Dao gebiert die Eins,
die Eins gebiert die Zwei,
die Zwei gebiert die Drei,
die Drei gebiert die zehntausend Dinge.
Die zehntausend Dinge tragen das Yin auf dem Rücken und umarmen das Yang,
das strömende Qi wirkt die Harmonie.
Das Dao als kreative Matrix, die der Entstehung der Zahlen zugrundeliegt, gebiert die Eins, das eine ursprüngliche Qi. Ein einziges Qi durchdringt alles unter dem Himmel, sagt Zhuangzi im 22. Kapitel seines Buches. Die Eins gebiert die Zwei: aus dem einen Qi werden Yin und Yang. Aus der Zwei, aus Yin und Yang, wird die Drei, die Triade von Himmel, Erde und Mensch, deren Beziehung und Interaktion schließlich die vielfältige Welt der „zehntausend Dinge“ erzeugen.
Anders ausgedrückt: Das Dao entlässt die Welt, indem das Yuanqi (das ursprüngliche Qi) sich in einem schrittweisen Prozess zur vielfältigen Welt der zehntausend Dinge entfaltet, und es nimmt sie wieder herein, indem die „zehntausend Dinge“, nachdem sie die einen Prozess stetiger Transformationen durchlaufen haben, schließlich wieder zu ihrem Ursprung zurückkehren.
Der Mensch ist ursprünglich, wie alles Gewordene, eine Manifestation des Dao. Das eine Qi, Yin, Yang, Himmel und Erde, all diese kosmischen Komponenten sind Teil der „Ahnenlinie“ des Menschen, die bis zum Dao als ursprünglichem Ahnen zurückreicht.
Der Mensch ist jedoch in einer eigentümlichen Position. Er lebt in zwei Ordnungen: Er lebt in einer „himmlischen“ Ordnung als Teil des sich vom Dao über das eine Qi, Yin und Yang und die Triade Himmel-Erde-Mensch aktualisierenden Ganzen. Gleichzeitig jedoch lebt er quasi unabhängig in der durch Sprache geprägten, sozialen, menschlichen Ordnung. Als Teil dieser Ordnung, die auf der Oberfläche des Ganzen durch die Sprache Trennungen, Unterscheidungen und Grenzen errichtet, ist er immer in Gefahr, die Beziehung zur Einheit der Wirklichkeit zu verlieren.
Um das Leben wieder in Einklang mit der himmlischen Ordnung zu bringen, ist es notwendig, das persönliche Leben so zu leben, dass sich Begrenzungen auflösen können und die Verwurzelung in der ungebrochenen eigentlichen Wirklichkeit wieder realisiert werden kann. Im Daoismus wird diese Transformation Rückkehr genannt, Rückkehr zur Erlangung des Dao (de dao) oder Verkörperung des Dao (ti dao), im Qigong wird sie verstanden als Rückkehr zum reinen ursprünglichen Qi und seinen heilenden Möglichkeiten. Methodisch erfolgt die Rückkehr durch immer weitere Vereinfachung: durch ein Voranschreiten von der Vielfalt zur Einfalt und Einheit, um schließlich die spontane Manifestation des schöpferischen Potentials zulassen zu können, die durch diese Rückkehr ins Kreative, Ungeformte und Ungeschiedene zugänglich wird.
Wahre Menschwerdung geschieht durch Rückkehr zum großen Leben des Universums. Der Mensch täuscht sich, wenn er glaubt, in einer Welt der klar voneinander geschiedenen Einzeldinge zu leben. Seine Existenz ist vielmehr verwurzelt im undifferenzierten Feld des Dao, in dem die Dinge sich wechselseitig durchdringen und in ihrem Wesen fließend sind. Diese Ebene transzendiert die Welt der menschlichen Erfahrung, sie einzubeziehen, ist jedoch Grundbedingung der Verwirklichung wahren Menschseins. Zhuangzi fordert zum doppelten Gehen (liangxing) auf bzw. zur Realisierung dessen, was er tianjun nennt, der Haltung der „himmlischen Gleichheit“, durch die alle Gegensätze harmonisiert und zurückgeführt werden können zum Zustand der chaotischen, undifferenzierten Einheit.
Immer schon im Daoismus (auch im heutigen Qigong, das sehr durch den Daoismus beeinflusst wurde) wurde die notwendige Transformation über den Körper zu erreichen versucht. Durch die Sprache und die Sozialisation wird der Mensch den natürlichen Zusammenhängen entfremdet – die Beziehung zu Himmel und Erde geht verloren und seine Fähigkeit, vom kosmischen Leben genährt zu werden, leidet. Der Körper als Manifestation ursprünglicher Energien befindet sich hingegen potentiell immer in der Ganzheit, darum kann durch die am Körper und seinen Energien ansetzenden daoistischen Übungsverfahren der ganze Mensch für das Wirkfeld des Dao geöffnet und allmählich wieder in dieses integriert werden.
Zhuangzi sagt dies so:
Im Allgemeinen wünscht das Dao, niemanden zu hemmen. Wird jemand gehemmt, so ringt er nach Luft; ringt er nach Luft, entstehen Stagnationen. Diese so entstehenden Stagnationen bringen sie eine Fülle schädlicher Wirkungen mit sich. Was immer Bewusstsein besitzt ist, hängt ab vom Atem. Fliesst der Atem aber nicht reichlich, so ist dies nicht die Schuld des Himmels. Der Himmel stellt Tag und Nacht unaufhörlich den Atem zur Verfügung – es sind die Menschen, die für sein Anhalten verantwortlich sind.
Und im Weiteren:
Der Mensch hat in seinem Bauch genügend Raum. Der Geist besitzt das Vermögen, natürlich zu wandern. Ist das Haus nicht geräumig, entstehen Konflikt zwischen den Bewohnern. Vermag der Geist nicht, auf natürliche Art zu wandern, kommen die sechs Sinne in Streit. Große Wälder, Hügel und Berge sind darum förderlich für den Menschen, weil sie für den Geist unerschöpflich sind.
Qigong heißt, diese Fähigkeit zu „himmlischem Wandern“ allmählich wieder zu erlernen, um das Leben aus dem ursprünglichen Qi, dem lebendigen Atem der Welt, immer wieder erneuern zu können. Das Leben als Gegenstand zu behandeln, mechanisch, wie wir es gelernt haben und ohnehin gewohnt sind, oder auch „esoterisch“ durch spezielle Verfahren der „Energiearbeit“ oder „Steuerung des Qi“, bedeutet, es auf die Oberflächenebene des Bewusstseins ziehen zu wollen, es zu verflachen und damit zu einem leblosen Ding erstarren zu lassen. Das wahre Leben ist Ausdruck der großen Einheit unter der Vielfalt, es äußert sich in den fundamentalen Energiemustern der Natur und den wellenförmigen Fluktuationen von Yin und Yang. Mit diesem wahren Leben versucht man im Qigong wieder in Resonanz zu kommen. Heilung passiert dort, an jenem Punkt, an dem sich das Potential des Ganzen in dem raumzeitlichen Punkt, den der Körper darstellt, wieder aktualisiert. Alle daoistischen Verfahren der Regeneration und des Nährens der Lebenskraft teilen diesen geistigen Hintergrund, in dem Gesundheit und Heilung als Ausdruck einer Ganzwerdung bzw. eines Wirklich-Werdens verstanden werden.
© Árpád Romándy