In den letzten Jahrzehnten sind viele Inhalte der chinesischen Kultur in den Westen gelangt und auf großes Interesse gestoßen. Dies gilt vor allem für die chinesische Medizin und für Körpertechniken wie Qigong und Taiji, wie man an der Zahl der Bücher ablesen kann, die zu diesem Thema erschienen sind. Die Struktur des Denkens, das der chinesischen Medizin wie auch dem Qigong und dem Taiji zugrundeliegt, wird allerdings noch zuwenig verstanden. Die Komplexität dieses Wissens einerseits und die fremde kulturelle Ausformung andererseits erschweren den Blick auf das Wesentliche.
Prägend für die chinesische Auffassung des Körpers ist der Begriff Qi. Qi wird oft als Lebensenergie übersetzt, bedeutet aber auch Atem, Dunst, Gas, Hauch, Atmosphäre, Geist, Einfluss, Gefühl, Wesen. Man sieht, dass es eigentlich unmöglich ist, einen adäquaten Begriff im Deutschen zu finden, der die Fülle dieser Bedeutungen abzudecken imstande ist. Der Begriff Qi bezieht sich aber nicht nur auf den Menschen oder auf körperliches Geschehen. Das Qi stellt eine kosmogonische Kraft dar, aus der alles Seiende entstanden ist. Materie und Energie sind unterschiedliche Ausformungen derselben ursprünglichen Kraft, in seiner verdichteten Form bildet das Qi Materie, aus der Verwandlung und Verdünnung des Qi entsteht Energie. Yin ist das entstehen von Körpern, Yang die Verwandlung in Qi. Desgleichen gibt es auch keinen Gegensatz zwischen Geist und Materie, da diese beiden auch nichts anderes als unterschiedliche Aggregatzustände derselben Urenergie Qi darstellen. Im Neokonfuzianismus späterer Zeit wurde dann eine auf dem Qi basierende Metaphysik entwickelt, wobei dessen Interaktionen und Fluktuationen, Verdichtungen und Verdünnungen durch eine immanente Ordnung Li gesteuert vorgestellt wurden. Ursprünglich bedeutete Li Etikette. Diese war in alter Zeit eines der wesentlichsten Wissensgebiete der Chinesen, konnte doch durch ihre Durchdringung und Meisterung die Vielfalt der räumlichen und zeitlichen Parameter aufeinander und vor allem auf den Menschen abgestimmt werden. Später dann wandelte sich der Begriff soweit, dass er dem Begriff des Naturgesetzes zu ähneln begann, allerdings ohne dass sich ein wissenschaftliches Denken im heutigen Sinne entwickelt hätte. Es war den Chinesen immer fremd, Wissenschaft rein objektiv zu betreiben. Ihr Interesse galt dem Erkennen, Verstehen und Abstimmen von Ordnungen in Bezug auf Mensch, Gesellschaft und Kultur. Darum konnte sich die Etikette Li zu einem metaphysischen Prinzip wandeln und dies gilt es zu berücksichtigen, wenn wir ihre Auffassung des Körpers verstehen wollen.
Der Körper stellt für die Chinesen ein vielfältiges Muster energetischen Geschehens dar. Aus dem oben Gesagten geht hervor, dass beim Menschen die uns geläufige Trennung von Körper, Seele und Geist nur eine scheinbare ist, sind sie doch Ausformungen einer grundlegenden Einheit, nämlich des Qi. Das heißt nicht, dass Körper, Seele und Geist nicht unterschieden werden, sie werden aber nicht als getrennt aufgefasst und es findet eine Wechselbeziehung zwischen diesen drei Bereichen statt, da das Qi die Verbindung oder besser die den dreien zugrundeliegende Einheit darstellt.
Die energetischen Muster konstituieren aber nicht nur den Körper des Menschen, sondern auch die Beziehung zu seinem Umfeld, zu Gesellschaft, Natur und im weitesten zum gesamten Universum. Gesellschaft, Natur und Kosmos waren für die Chinesen immer ein großes Ganzes, das keine scharfen Trennungen aufwies. Es ist die Aufgabe des Menschen, sich harmonisch in das große Ganze einzufügen, die Qualitäten von Raum, Zeit und Zahl zu verstehen und das
harmonische Werk von Himmel und Erde zu vollenden. Sein Qi zu nähren, bedeutet Einstimmung auf den Kosmos, da das Qi des Menschen ja Ausdruck der alles konstituierenden und alles durchdringenden Kraft ist. Darum sagt Menzius:
Ich verstehe mich hervorragend darauf, mein strömendes Qi zu nähren. Es ist etwas höchst Gerades und Starkes und zwischen Himmel und Erde gibt es nichts, was es nicht ausfüllt.
Doch muss dies mit dem rechten Verständnis der Embleme (d. h. der Kategorien der Zahl) getan werden, das Denken muss auf die unterschiedlichen raumzeitlichen Qualitäten abgestimmt werden, dann erst kann die rechte Wirkung erzeugt und die große Harmonie hergestellt werden.
So heißt es weiter:
Das Qi gehört zusammen mit Gerechtigkeit und Sinn, ohne diese beiden verkümmert man.
Herstellung der Harmonie in Gesellschaft und Natur und Einstimmung in den Kosmos ist die Aufgabe des Menschen, sein himmlischer Auftrag. Um diesen zu verstehen, wurde ein komplexes System der Entsprechungen ausgearbeitet, basierend auf der Zahl und damit der Musik, um die rechten Beziehungen zwischen den Qualitäten herstellen zu können. Manches von diesem Entsprechungssystem hat seinen Weg in den Westen gefunden, wobei vor allem die 5 Wandlungsphasen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser mit all den Zuordnungen von Farben, Geschmäckern, Organen, Himmelsrichtungen, Jahreszeiten usw. genannt werden müssen. Es ist aber nicht notwendig, all dies zu übernehmen. Manches erweist sich als wertvoll und von hohem praktischem Nutzen, anderes wiederum ist nur vor dem Hintergrund des mythischen Denkens des alten China verständlich und ohne Belang für die heutige Zeit.
Es geht der Medizin der Chinesen und den Körpertechniken wie Taiji und Qigong also in erster Linie um Harmonie. Um Krankheiten zu heilen und sich auf den Körper einzustimmen, ist es nötig, die energetischen Muster innerhalb des Körpers und ihre Interaktion mit Gesellschaft und Natur zu verstehen. Krankheit bedeutet Vereinzelung und Entstehung falscher Beziehungen und Zusammenhänge, im Chinesischen als Xieqi (schräges Qi) bezeichnet. Diese müssen beseitigt werden, dann wird die Harmonie wiedererlangt und die Gesundheit als Ausdruck des Menschen für seine rechte Stellung im Raum-Zeit-Gefüge ist wiederhergestellt.
Es geht um Beziehungen. Beziehungen, die von einem Subjekt ausgehend auf Subjekte weisen. Marcel Granet hat das Denken der Chinesen als zutiefst humanistisch bezeichnet, als eine von konkreter Naturerfahrung durchdrungene Weisheitslehre, der es nie um logisch-analytisches Verständnis der Wirklichkeit ging, sondern um die Fragen des Sinns und der Stellung und Aufgabe des Menschen in Kultur und Natur. Heilung heißt Verständnis, Verständnis von Ordnungen und Beziehungen, nicht Erkennen von Ursachen. Darum lag der Schwerpunkt nicht auf einem kausal-analytischen, sondern auf einem induktiv-synthetischen Denken, das besser zur Erkenntnis von Mustern und Beziehungen geeignet schien.
Der wichtigste Schritt, um die harmonische Einstimmung zu erreichen, ist, eine Mitte zu schaffen. Diese Mitte wird körperlich aufgefasst, als Zentrum im Unterbauch lokalisiert und als Zinnoberfeld (auf chinesisch Dantian) bezeichnet. Ohne diese Mitte sind die energetischen Muster nicht zentral durchstrukturiert und werden leicht gestört, wenn diese Mitte geschaffen wird, strukturieren sich die Energien nach Raum und Zeit. Die zeitliche Struktur ist in den 12 Hauptmeridianen gegeben. Alle zwei Stunden wird ein anderer Meridian vermehrt von Qi durchflossen, die Meridianenergien stützen einander und bilden zusammen das 12fältige Rad der Zeit, in Analogie zum Quinten- bzw. Quartenzirkel, der im alten China die Zeitrechnung bestimmte und der für den Menschen die Grundlage der Zeiterfahrung bildet. Die räumliche Struktur ist durch die 8 Sondermeridiane gegeben, bildhaft als stehende Gewässer bezeichnet, die in Beziehung gesetzt werden zu den 8 Trigrammen des Buchs der Wandlungen und die durch die Richtungen verständlich werden, die sich aus dem Verhältnis Sonne – Erde ergeben. Das 12fältige Zeitrad und das 8fältige Raumrad wiederum sind auf einen Mittelpunkt bezogen, der dem Subjekt entspricht.
Der entscheidende Punkt wird allerdings so gut wie nie erwähnt. Sowohl die chinesische Medizin als auch der Qigong gehen nämlich von 2 Subjekten aus, die zwei Formen des Bewusstseins entsprechen. Sie werden als Shishen, unterscheidender Geist und Yuanshen, Ursprungsgeist bezeichnet und entsprechen der Unterscheidung von Bewusstsein und Gewahrsein. Die körperliche Mitte kann nur in Entsprechung zu einer geistigen Mitte gefunden werden, die erst die Beziehung, das Erkennen und Wiederherstellen der Ordnung und das freie Fließen der kosmischen Energie ermöglicht. Diese geistige Mitte hat nichts mit dem Normalbewusstsein zu tun und jeder Versuch, sie aus dem Normalbewusstsein heraus zu bilden und so die Energien zu lenken, führt zu neuen Einseitigkeiten. Die Mitte ist nur durch das Verwirklichen der inneren Stille und Leere erreichbar, also dadurch, dass der von Bewusstseinsinhalten leere Raum als Zentrum genommen wird. Je mehr dies gelingt, desto mehr kann das eigentliche Subjekt, der Ursprungsgeist, in den Vordergrund treten und seine Wirkung entfalten. Die chinesische Medizin mit ihren verschiedenen Techniken wie Akupunktur, Akupressur, Kräutertherapie usw. versucht nicht, direkt das Spiel der Energien zu beeinflussen, sondern das Gewahrsein zu wecken, das dann die rechte Harmonie spontan verwirklicht. Das gleiche gilt für den Qigong. Entscheidend ist die Fähigkeit, in die Stille einzutreten, da dies dem Ursprungsgeist die Möglichkeit zur Entfaltung gibt und die energetischen Muster sich dann spontan umstrukturieren. Die Energien direkt ordnen zu wollen, heißt misszuverstehen, wie Harmonie und Ordnung entsteht.
Um diesen Punkt anders auszudrücken: die Chinesen gehen davon aus, dass falsche Muster, die aus falschem Denken oder falscher Einstellung entspringen, dem Menschen verunmöglichen, seine Mitte zu finden. Die körperliche Mitte entspricht der geistigen Mitte, die wie die Nabe eines Rades verstanden wird, als unausgedehnter Punkt, der den Zusammenhalt und die richtige Funktion des Ganzen gewährleistet. Ist der Mensch in dieser Mitte, entsteht die Ordnung von selbst, ganz im Sinne des Wuwei, des Handeln aus dem Nichts, wie man es auch übersetzen kann. Die Übung des Qigong oder Taiji, aber auch die Behandlung durch einen chinesischen Arzt, ist im Sinne der Etikette zu verstehen. Zentrum und Peripherie werden in das richtige Verhältnis gesetzt, Ordnungen und damit Zahlenstrukturen miteinander in Beziehung gebracht, mit dem Ziel der großen Harmonie, die dann entsteht, wenn die innere Ordnung der kreativen Ordnung des Tao entspricht.
Meist wird die chinesische Medizin also missverstanden, desgleichen Taiji und Qigong. Zu sagen, dass mittels dieser Techniken Energieblockaden gelöst werden, geht am Wesentlichen vorbei. Es geht nicht um einen freien Energiefluss allein, sondern vor allem um die inhaltslose Mitte des Bewusstseins, die Beziehung und Entfaltung ermöglicht. Es ist der Zugang zum Gewahrsein, der sich heilend auswirkt, da dieses das Qi steuert und ordnet.
Man kann sagen, dass die Chinesen in ihrem Verständnis des Körpers und in ihrer Heilkunst in teilweise klarer und teilweise mythischer Weise Zusammenhänge beschreiben, die in der Struktur des Rades ihre zeitgemäße Formulierung gefunden haben. Das Gewahrsein ist zugänglich und kann jeden Augenblick spontan seine Wirkung zeigen. Die Techniken schaffen die Rahmenbedingungen, sie versuchen den Zugang zu schaffen, nicht im Sinne einer Erleuchtung oder Gipfelerfahrung, sondern im Sinne einer Umstrukturierung auf ein leeres Zentrum hin. Die Bemühung um die Leere ist im Qigong aktiv und in gewissem Sinne meditativ, in der Akupunktur und anderen Heilverfahren wiederum ist der Mensch passiv und der Prozess verläuft unbewusst, aber es genügt, dass die Grundstruktur stimmt, dass also von einem inhaltsleeren Tiefensubjekt ausgegangen wird. Dadurch, dass das Qi die Verbindung zwischen Geist und Körper ist, können all diese Techniken die Nahtstelle zwischen Bewusstsein und Gewahrsein anpeilen und somit den Menschen an den Ursprung rückbinden.
Die chinesische Medizin wie auch Taiji und Qigong können in ihrer Vielfalt und Komplexität auf die Beziehung zwischen 0 und 1 zurückgeführt werden. Bei aller Fremdheit und sicherlich auch bei aller Mischung von richtigen Erkenntnissen und abergläubischen Vorurteilen setzen sie das Gewahrsein voraus und versuchen so, den Menschen in seiner Ganzheit richtig zu erfassen. Joseph Campbell hat einmal gesagt, dass alles, was einen Menschen mit etwas verbindet, das größer und umfassender ist als er selbst, einen Ritus darstellt. In diesem Sinne ist die chinesische Medizin keine Therapie im herkömmlichen Sinn, sondern ein rituelles Heilverfahren und das gleiche gilt für Taiji und Qigong, es sind Riten, die das Gewahrsein voraussetzen und zu seiner, auch körperlichen, Manifestation führen sollen. Nicht Befreiung ist das Ziel, sondern der rechte Zusammenhang, nicht mystische Erfahrung, sondern Teilhabe an der kreativen Kraft des Tao, die sich aus der rechten Ortung in Zeit und Raum ergibt.
© Árpád Romándy